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© 1991-2017 C. Kochinke, Rechtsanwalt u. Attorney at Law, Washington, DC, USA
Unschuldsvermutung und Presseberichterstattung in den USA


von Julia Blees *
Erstveröffentlichung: 1. Januar 2016


Auch in den USA gilt die Unschuldsvermutung. Viele Amerikaner, auch Juristen, sind der Meinung, dieses Konstrukt gebe es nur in den Vereinigten Staaten und England. Dabei ist die Unschulds­vermutung im US-Recht auf die Beweis­last­regel in dubio pro reo beschränkt, während sie im kontinental­europäischen Raum auch die Würde des Verdäch­tigen sichert. Während Strafverfolger in Deutsch­land und Europa unvorein­genommen sind oder sein sollten, sind sie im US-ame­rika­nischen Prozess geradezu verpflichtet, vorein­genommen zu sein.

Dies wird deutlich, wenn man sich mit dem sogenannten Perp Walk beschäftigt. Der Begriff leitet sich aus der Wendung walking the perp her, wobei perp für perpetrator, was zu deutsch Straftäter bedeutet, steht. Perp Walk ist der Weg zum Haftrichter, und dieser findet in den USA öffent­lich statt. Die Medien dürfen und sollen teil­nehmen und Fotos vom Verdächtigen in Hand­schellen schießen und veröffentlichen. Ursprüng­lich war der Perp Walk nur für schwere Straf­taten vorgese­hen, doch wurde er in den 1980er Jahren in New York durch Rudolph Giuliani zur Abschreckung auch auf andere Delikte ausge­weitet und ist heute common Custom in den USA.

In Deutschland widerspräche dies massiv dem Recht auf freie Entfal­tung der Persön­lichkeit und ist daher undenk­bar. Im deutschen Straf­prozess findet kein Perp Walk statt; der Verdächtige wird vom Gefäng­nis zu Gericht - meist zu den im Keller des Gerichts befindlichen Haft­zellen - gebracht und dort unter Ausschluss der Öffent­lichkeit dem Haftrichter vorgeführt.

Ein weiteres, aus dem Perp Walk resultierendes Problem ist, dass die amerikanische Jury durch die Pressever­öffentlichungen in ihrer Be­urteilung der Schuldfrage beeinflusst werden kann.

Zunächst ist auch hier daran zu erinnern, dass auch im amerikani­schen Prozess der Richter das Urteil spricht und die Jury in der Regel nur über die Schuld­frage entscheidet. Die Jury besteht meist aus 12 Mitgliedern, die die Tatsachen­feststel­lungen treffen, sie subsumieren und daher die vom Plädoyer Ange­sprochenen bilden. Die Einzelstaaten in den USA entscheiden selbst über die Art und Größe der Jury in ihren Gerichten. Auch kann eine Jury-Entscheidung Vorteile gegenüber einer reinen richter­lichen Entscheidung bieten: es handelt sich nämlich um eine kollek­tive Entscheidungs­findung. Die Möglich­keit, Fehler im Prozess oder der Entscheidungs­findung zu begehen, kann aufgrund der Größe der Jury besser überwacht. Somit kann das Auftreten von Fehlern effek­tiver verhin­dert werden, während der Richter sich auf das Verfahrens­rechtliche konzen­triert. Aller­dings bietet das System auch weit­greifende Nachteile: die Geschworenen als Gruppe unvor­bereiteter Laien kann nach Ermessen, schlimmsten­falls bis zur Willkür oder auch unter Miss­achtung gesetz­licher Vorgaben ent­scheiden und unter den Mit­gliedern kann Gruppen­druck entstehen. Dann muss jedoch der Richter ein­greifen. Im amerikanischen Zivilprozess verhält sich das Verhältnis von Richterrolle zu Geschworenen genauso.

Um auf das Problem der Vorein­genommenheit nach Presse­bericht­erstattung zurück­zukommen: Dies ist grund­sätzlich ein allge­meines Pro­blem und kann auch in Deutsch­land relevant werden, auch ohne Perp Walks. Es kann nämlich durchaus auch durch mediale Bericht­erstattung während eines bereits laufen­den Verfahrens geschehen, wie beispiels­weise im Kachelmann-Prozess in Deutschland. Gleichwohl darf man die unterbewusste, mittelbare Wirkung einer solchen media­len Darstellung, die auf eine mediale Vorver­urteilung hinausläuft, nicht unterschätzen. Der Druck auf die Laienrichter nimmt zu, je interessan­ter oder prominenter die dargestellte Person ist. Je größer das Ansehen der verdächtigen Person, umso kritischer wird die Person in der Presse eben auch diskutiert und dargestellt, wie beispiels­weise im Fall Dominique Strauss-Kahn,.

Grundsätz­lich bedeutet das Prinzip der Unschulds­vermutung, dass die Ermittlungs­behörden so handeln, dass der Verdäch­tige nicht vor einer ruinierten Existenz steht, wenn sich seine Unschuld im Laufe des Ver­fahrens heraus­stellt. Der Beschuldigte eines Straf­verfahrens muss bis zum Beweis des Gegen­teils als unschuldig gelten und eben auch so behandelt werden.

In Europa ist die Unschulds­vermutung ein substantielles Recht des Verdäch­tigen. Ihr folgen nicht nur Beweis­regeln, sondern auch das Prinzip der Verfahrens­gerechtigkeit, wie zum Beispiel: das Verfahren muss unpartei­lich und fair ablaufen, und es müssen auch die den Verdäch­tigen ent­lastenden Fakten ermittelt werden. In den USA und auch in England ist die Unschulds­vermutung hingegen auf die Beweis­würdigung beschränkt.

Der Supreme Court hat 1895 erstmals in einem Urteil die Unschulds­vermutung für die USA anerkannt, Coffin vs. United States: Die Ver­mutung der Unschuld bedeutet die Bewertung der Beweise im Sinne des Angeklagten. Legt die Anklage aber Beweise vor, die keine ver­nünf­tigen Zweifel an der Schuld des Verdächtigen erkennen lassen, ist dies im Rahmen der amerika­nischen Unschulds­vermutung schon aus­reichend. Da sich im ameri­kanischen Prozess der Angeklagte und der Staats­anwalt wie in einem Partei­verfahren oder gar in einem Du­ell gegen­überstehen, ist diese nach deutschem Verständnis schwache Unschulds­vermutung mit dem konfron­tativen amerika­nischen Straf­verfahren vereinbar, allerdings aus deutscher Sicht nicht ausreichend.


*   Julia Blees ist Rechtsassessorin. Sie absolvierte ihr Rechts­referendariat im Oberlandes­gerichts­bezirk Koblenz und studierte zuvor Rechts­wissen­schaften an der Universität Trier. Bei Berliner Corcoran & Rowe LLP unter der Leitung des deutsch-amerikani­schen Rechtsanwalts Clemens Kochinke, Attorney at Law, absolvierte sie 2015 drei Monate Anwalts­station im Rahmen ihres Rechts­referenda­riats. Dieser Bericht entstand während eines Forschungsaufenthalts in Washington, DC.